Die Zeller Hexe
/

die letzte deutsche Hexe

 

Hintergründe, Motive und Erklärungsversuche

Man mag aus heutiger Sicht nicht begreifen, wie es noch im Jahre 1749 zu einem solchen Prozess kommen konnte – und doch die Geschichte lehrte uns, dass über zweihundert Jahre später ein ähnlich skandalöser Fall des Aberglaubens im so genannten Atomzeitalter das Leben einer jungen Frau kostete.

Im Jahre 1976 (!) starb die 23-jährige Studentin Anneliese Michel aus Klingenberg am Main, weil anstatt einer ärztlichen Behandlung ihrer Epilepsie – mit Billigung des Bischöflichen Ordinariats Würzburg – der Frankfurter Jesuitenpater Dr. Adolf Rodewyk Teufelsaustreibungen vornahm, und am 28. Juli 1976 in einem Interview mit der Main-Post Würzburg dies auch noch verteidigte. Dabei erklärte der Exorzist, dass die Besessenheit sich deutlich am Fluchen, Toben und krampfartigen Schütteln erkennen lasse, wobei die Teufel aus dem befallenen Leib sprächen.

 

1. BESESSENHEIT - EPILESPIE? 

Nicht nur die Tatsache, dass wieder Mainfranken traurige Berühmtheit erlangte, sondern auch die fast gleichlautende Beschreibung der „Besessenheit“ zeigen deutliche Parallelen auf.

Das Anfallsleiden Epilepsie (Fallsucht) setzt zumeist plötzlich ein, die Körpermuskulatur beginnt unkontrolliert zu krampfen, häufig wird dabei auch in die Zunge gebissen, was zu Blutungen aus dem Mund führt. Die aus der Lunge gepresste Luft wird durch die ebenfalls krampfenden Stimmbänder getrieben und es kommt zum so genannten epileptischen Schrei.

Die Krankheit ist natürlich nicht ansteckend, wohl aber durchaus genetisch bedingt.

Zwar sind für Epilepsien noch andere Ursachen bekannt, doch folgt die mittlerweile herrschende Ansicht in der Medizin der Theorie von der genetischen Veranlagung. Hier ist ein Blick auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Hauptbelastungszeugen aufschlussreich. Deutlich wird dabei, dass die genetische Veranlagung, die in der Familie Traub vorzufinden ist, über die Frau des Anton Venino, eine geborene Traub, bei der die genetische Anlage zwar bestand, jedoch nicht als Leiden aufgetreten ist, in die Familie Venino eingeflossen ist.

Auffallend ist, dass die Beschreibung der „Besessenheit“ in allen Fällen gleich ausfiel.

Unsichtbare Kräfte beutelten die Betroffenen, ihr Kopf verdrehe sich auf dem Rumpf und es kam zu den bekannten Bissen. Beachtenswert ist auch, dass Baschwitz feststellt, die weitere Nachkommenschaft Veninos sei als geisteskrank in Erscheinung getreten.

Im Übrigen endete das Leben der Theresia Venino im Juliusspital, wohin sie wegen Geisteskrankheit eingewiesen wurde.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Carl Anton Venino bereits 1744 gerichtlich versuchte die Krankheiten seiner Familie mit Hexerei zu erklären – wobei damals von Maria Renata Singer keine Rede war

Auch bei einer weiteren Mitschwester, nämlich Cäcilia Pistorini aus Hamburg, waren seit 1745 ähnliche Anfälle bemerkt worden, unter denen sie aber schon vor ihrem Klostereintritt litt.

Die Darstellung der Besessenheit und die deutliche Häufigkeit dieser Symptome in der Familie Venino/Traub lassen keine Zweifel, dass das damalig noch nicht bekannte und abschreckende Krankheitsbild der Epilepsie von abergläubigen Menschen als Teufelswerk angesehen wurde, so wie es in 1976 noch bei der Studentin Anneliese Michel geschah.

Das Abschieben solch erkrankter Kinder in das Kloster Unterzell, oftmals mit entsprechenden finanziellen Zuwendungen verbunden, war sicher eine der vordergründigen Ursachen für das Aufflammen des Aberglaubens.

 

2. WEITERE URSACHEN IM ZUSAMMENHANG MIT DER FAMILIE VENINO/TRAUB

Die obigen Familienverhältnisse erklären auch die Frage, warum Maria Renata Singer eine solche Antipathie gegen die Traubs und Veninos entwickelt hatte. Im Gegensatz zu ihren eigenen Brüdern durften die Verwandten der Schwester Theresias diese häufig besuchen und wurden dabei freundlich empfangen.

Dies ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ihr Onkel der Probst war. Welche Bevorzugung die junge Venino genoss, zeigt auch, dass sie bei der Beichte vom Probst persönlich die Absolution erhielt. Eine gewisse Verärgerung über diese Bevorzugung wird die als äußerst diszipliniert geltende Subpriorin des Klosters wohl an der jungen Nonne ausgelassen haben und somit unbeliebt geworden sein. Die jüngeren Klosterinsassinnen scheinen also durchaus froh gewesen zu sein, dass eine Belastung Maria Renata Singers sie von der strengen Subpriorin befreite.

 

3. ERKLÄRUNG FÜR DIE VORGÄNGE IM KLOSTER 

Weitere Gründe für die seltsamen Vorgänge im Kloster waren zwei Tatsachen.

Zum einen war das Kloster Unterzell damals reich begütert und dazu gehörte auch ein hoher Verbrauch an Wein. Viele Ereignisse im tristen Klosterleben hatten natürlich im kirchlichen Dualismus Gott – Teufel während des Alkoholrausches durchaus diabolische Charakterzüge angenommen.

Zum Zweiten sprechen gute Gründe dafür, dass diese Zustände noch durch die Verwendung berauschender Pflanzen verstärkt wurde. Indiz hierfür sind die Funde der „Hexenkräuter“ in Maria Renatas Kammer, mit denen sie sich nach eigenen Angaben wie im Traum zu den Hexenversammlungen begab. Hinzu kommt aber auch die Vermutung, dass die Freifrau von Mossau mondsüchtig war, wodurch sich ihre nächtlichen Umtriebe und das schicksalhafte Ereignis mit der Wunde durch die mit scharfen Sporen bewaffnete Disziplin erklären lassen.

 

4. GESTÄNDNISBEREITSCHAFT DER MARIA RENATA

All diese Erklärungen lassen jedoch die Frage offen, warum die alte Frau bereitwillig ihr angebliches Hexen-Dasein gestand. Man darf wohl annehmen, dass die damals 70-jährige und schwer kranke Nonne, schlafwandelnd und häufig in Rauschzuständen Realität und Traum nicht mehr unterscheiden konnte.

Bilder aus ihrer Kindheit, als sie im Heerlager lebte, und ihr Hang zum weltlichen Leben, ließen sie wohl sehr depressiv werden.

Was ihr am Tag im strengen Klosterleben als Sünde dargestellt wurde, war ihre Welt, in die sie sich in ihren nächtlichen Phantasien versetzte. Je geringer die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Traum wurde, desto größer wurde ihre Akzeptanz eines sündigen Daseins und einer angeblichen Verschreibung an den Teufel.

Ihren Höhepunkt fand diese Annahme der vermeintlichen Hexenrolle in dem Glauben, tatsächlich für alles Übel verantwortlich zu sein und mit den entsprechenden Utensilien der ungeliebten Familie Venino/Traub schaden zu können.

 

5. FINANZIELLE ASPEKTE 

Und doch scheinen all diese Umstände noch nicht ausreichend zu sein, um das energische Vorgehen des Probstes von Unterzell Traub und des Prälaten Loschert gegen die erkrankte, alte Nonne zu erklären. Insbesondere wird aus den Protokollen ersichtlich, dass sowohl das geistliche als auch das weltliche Gericht durchaus versuchten, die Vorgänge eher zu relativieren. Die eigentliche Verhandlungsunfähigkeit und der Realitätsverlust waren von den Richter wohl bemerkt.

Warum man also ausgerechnet gegen eine alte, schwer kranke Nonne den Vorwurf der Hexerei so nachhaltig verfolgte, lässt sich erst mit einem Blick auf das energische Drängen aus dem Kloster Oberzell erklären. Just die Oberzeller forderten immer wieder beim Fürstbischof ein Betreiben des Verfahrens anstatt die verdiente Subpriorin zu schützen

Eine Begründung dafür erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Erinnert man sich aber daran, dass die Oberzeller Mönche für die Baumaßnahmen unter Balthasar Neumann im Kloster Unterzell finanzielle Unterstützung erbaten und dort abgewiesen wurden, zeigt sich wohl der letztendlich entscheidende Aspekt. Maria Renata Singer war es, die den Pumpversuchen aus Oberzell immer wieder Widerstand geleistet hatte.

Als sich daher die Chance bot, aufgrund der Vorkommnisse im Kloster die Unterzeller Subpriorin zu belasten und sie als Schuldige somit dieser Funktion zu berauben, wurde von den Oberzeller Mönchen wohl mit Nachdruck die Durchführung des Verfahrens verfolgt.

Damit war es dann aber letztendlich ein Justizmord, motiviert aus finanziellen Aspekten, in dem der Aberglaube und Hexenwahn über die wahren Beweggründe hinwegtäuschten und die Richter sich letztendlich instrumentalisieren ließen – wohl wider besseren Wissens.

 

FAZIT 

So fand im letzten fränkischen Hexenprozess eine nach heutigem Gesetz unzurechnungsfähige alte Frau ihren Tod. Tötung aus Habgier nennen Juristen Mord.

 Und doch hatte dieses tragische Ende ein Positives:

Die Reaktion auf Gaar´s christliche Anred` brachte die endgültige Befreiung der Menschen vom Hexenwahn auch in der theologischen Literatur, besonders durch den aus Tirol stammenden Pater Don Ferdinand Sterzinger, und die Ablehnung der Hexenverfolgung in der europäischen Öffentlichkeit.